Jele Mailänder
Starker Rücken und wildweiches Herz
Eine starke Haltung entwickeln, ohne dabei hart zu werden
Auszug aus meinem Buch
Daniela Mailänder: Wenn Gott zum Aufbruch ruft
224 Seiten
ISBN: 9783417000139
Maße: 13.5 x 21.5 cm
4-farbige Innengestaltung
Die Schachtel hier steht für unseren Blick in gebückter Haltung. Wir sehen nicht weit genug, sondern nur die vielen Flusen um uns herum. Wir werden in dieser Haltung nicht nach oben kommen. Wir brauchen eine andere Haltung, um dort draußen in der Wildnis zu leben.
„Es ist schwer“, sagt sie. „Wir sind alle in gebückten Haltungen und versuchen Berge zu erklimmen.“ Sie kommt mit der leeren Dose an ihrem Stuhl an. „Wir wollen nach oben und stellen fest, dass das nicht geht. Wir fuchteln herum und wollen weiterkommen, stoßen aber an Grenzen.“ Sie wendet sich mir zu: „Was tut man dann?“ Ich bin sprachlos und weiß nicht so richtig, was sie mir kniend auf dem Boden mit dieser leeren Bonbonschachtel in der Hand sagen möchte. „Noch einmal von vorne.“ Sie krabbelt in meine Richtung zurück, um sich dann wieder in Richtung ihres eigenen Stuhles zuzuwenden. Wieder schiebt sie die leere Bonbonschachtel über den Hochflorteppich. „Die Schachtel hier steht für unseren Blick in gebückter Haltung. Wir sehen nicht weit genug, sondern nur die vielen Flusen um uns herum. Wir werden in dieser Haltung nicht nach oben kommen. Frau Mailänder, wir brauchen eine andere Haltung, um dort draußen in der Wildnis zu leben. Wir brauchen einen aufrechten Gang, einen starken Rücken.“ Sie richtet die leere Dose hochkant auf – und dabei auch ein wenig sich selbst. Es geht um den aufrechten Gang, um einen starken Rücken, um Standhaftigkeit.
Ich verlasse ihre Praxis. Das klingt gut: Starker Rücken in der Wildnis. Ich beschließe noch an der Tür der Psychologin, ihr Bild von Standhaftigkeit tiefer zu erforschen. Was findet sich dazu in der Bibel? Wie lebt man mit starkem Rücken und aufrechtem Gang? Welche Haltung brauchen wir dort in der Wildnis?
Mit starkem Rücken in der Wildnis
Hast du schon ganz gelernt, für dich selbst zu stehen, dich nicht länger anzupassen?
Bist du unabhängig von der Meinung anderer?
Ein paar gefährliche Zwischenfragen
Passt du dich an? Oder gehst du deinen Weg?
Wir sind so schnell dabei, uns in den Bildern der inneren Wildnis wiederzufinden. Doch ob wir wirkliche Freiheit leben, wird sich in den konkreten Situationen unseres Lebens zeigen: Fragen wir uns immer noch, was die anderen von uns denken? Oder sind wir frei von der Meinung anderer?
Es gibt nichts, was einen starken Rücken mehr verhindert als die Frage: „Was denken andere über mich?“ Wenn wir ständig das Gefühl haben, uns beweisen und verstellen zu müssen, damit wir bei anderen beliebt sind, wird das unseren Rücken schwächen.
Checkliste für einen starken Rücken
Brené Brown hat eine Art Checkliste für die Wildnis erstellt. (1) In dieser Checkliste finde ich viele der Eigenschaften wieder, die es für den starken Rücken braucht. Doch Vorsicht! Diese Eigenschaften hier sind lediglich die Ergebnisse eines inneren Haltungswechsels! Wir können diese Charaktereigenschaften nicht einfach nachmachen oder sie „einüben“. Wir brauchen dafür eine tiefe Veränderung in uns. Diese Veränderung meint die Freiheit, zu der Jesus uns einlädt. Ich sehne mich mehr und mehr nach dieser Freiheit, die mich aufrechter und gerader gehen lässt. Mit dieser Haltung möchte ich gern in der Wildnis leben.
Grenzen
Verlässlichkeit
Verantwortung
Vertraulichkeit
Integrität
Nicht-Urteilen
Großzügigkeit:
Das Herz in der Wildnis
Sprüche 4,23
Manche Menschen sind so damit beschäftigt, den aufrechten Gang zu üben, dass sie sich gegenüber Menschen verschließen, nicht bereit sind, eine andere Perspektive einzunehmen oder mitzufühlen. Einem harten Herzen fehlt Vertrauen. Ein hartes Herz entsteht durch Angst. Ein hartes Herz verschließt sich für andere und auch für das eigene, tiefe Bedürfnis nach Verbundenheit. Die Folgen sind Egoismus, Ich-Zentriertheit und fehlendes Mitleid.
Für Menschen, die in der Wildnis unterwegs sind, ist ein hartes Herz eine echte Herausforderung. Wie viele unter uns haben in ihren Gemeinschaften tiefe Verletzungen erlebt, bauen einen harten Panzer um sich und lassen niemanden zu nahe an sich heran? Wie viele von uns gehen nach vorne, leisten viel, konzentrieren sich ganz auf einen starken Rücken und vergessen dabei ganz ein weiches Herz zu pflegen?
Doch wir brauchen in der Wildnis beides: einen starken Rücken und ein gesundes Herz. Nur beides zusammen führt uns zu der Haltung, die wir in der Wildnis benötigen.
Deswegen lass uns unsere Herzen pflegen und darauf achten, dass sie weich und beweglich, zugewandt und verbunden werden und bleiben.
Ein weiches Herz durch Vertrauen
Dein Herz ist die Tiefe deines Wesens. Du lebst aus dieser Tiefe. Was dein Herz prägt, das prägt dich. Wie du mit deinem Herzen, deinem tiefsten Wesen umgehst, entscheidet über alles andere: dein Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden und Wollen. Dein Herz hat Einfluss auf deine Seele und sogar auf deinen Körper. (2) Dein Herz ist im tiefsten Wesen du selbst.
Das Herz ist also der geistliche Kern, der Mittelpunkt. Was in unserem Herzen ist, bringt am Ende hervor, wer wir sind, wer wir werden und was aus uns wird. Die weisen hebräischen Denker sahen im Herzen den Sitz der Gefühle, das Wohnzimmer der Vernunft und die Schlafstätte des Wünschens und Wollens. Das alles wird von dort aus gesteuert. Wie es um unser Herz bestellt ist, prägt alles an uns: Identität, Charakter, Persönlichkeit.
Wie aber können wir den Herzmuskel trainieren? Und zwar so, dass unsere Herzen weich werden und bleiben? Wie können wir den Schutzpanzer, den wir vielleicht aufgebaut haben, ablegen? Wie werden erstarrte und harte Herzen wieder weich? Wie können wir den Gegenspieler unseres aufrechten Ganges trainieren?
Zunächst einmal ist weniger Training dabei, als wir vielleicht meinen. Gott verspricht uns neue, weiche Herzen als Geschenk:
Hesekiel 36,26
Ein hartes Herz, wie es hier dem Volk Israel vorgeworfen wird, lässt sich nicht einfach durch ein paar Übungen (wieder) weich machen, vielmehr ist es Gott, der an uns Menschen arbeitet. Allerdings können wir uns für seine „Herzbearbeitung“ öffnen. Doch wie?
Vielleicht müssen dafür auch manche Meinungen, Glaubenssätze und angelernte Ideologien „abgeschafft“ und die harten Stellen unserer Herzen zerbrochen werden, damit unsere Herzen weich werden. Manchmal arbeitet Gott ganz sanft, manchmal muss auch etwas sterben. Aber immer verwendet Gott gebrochene Dinge, um etwas Neues wachsen zu lassen: Aufgebrochene Erde lässt Weizen wachsen. Ein Weizenkorn bricht und „stirbt“, bevor es viel Frucht bringt (Johannes 12,24). Ein „Wolken-bruch“ lässt es regnen. Aus aufgebrochenem Getreide wird Brot gebacken und das gebrochene Brot steht für das neue Leben, das wir mit Jesus haben.
Ich ahne, dass dort, wo wir bereit sind, unsere Herzen offener, vertrauensvoller und zugewandter Gott zum liebevollen Betrachten zu überlassen, unsere Herzen weicher werden können.
Wenn also gerade etwas in deinem Leben zu Bruch geht, dann kann das der Beginn von etwas Großem sein, das eng damit verbunden ist, dass dein Herz (wieder) weicher wird. Dort, wo du „ent-täuscht“ bist von einer Meinung, von Menschen oder von einer bestimmten „hart gewordenen“ Form des Glaubens, dort, wo du nicht mehr klarkommst mit erstarrten Formen deines Gebetslebens, dort möchte Gott selbst etwas zerbrechen und es wieder ganz weich werden lassen in deinem Herz. Bist du bereit, zu vertrauen? Bist du bereit, dich zu öffnen?
Ich ahne, dass dort, wo wir bereit sind, unsere Herzen offener, vertrauensvoller und zugewandter Gott zum liebevollen Betrachten zu überlassen, unsere Herzen weicher werden können. Deshalb bete ich um offene Herzen, die berührt werden und auf diese Weise empfindsam werden für Gottes Handeln in uns.
Ein weiches Herz macht mutig
Ein weiches Herz zu haben meint nicht, ängstlich, unentschlossen oder schüchtern zu sein. Im Gegenteil! Ein weiches Herz macht mutig. Ein weiches Herz macht mitfühlend. Ein weiches Herz macht bestimmter und klarer. Im Hebräerbrief heißt es: „Denn es ist gut, dass euer Herz durch Gottes Gnade gefestigt wird“ (Hebräer 13,9b). Hier geht es nicht um Härte, sondern um ein Herz, das durch die Gnade (!) fest wird.
Das Wort „Gnade“ beinhaltet dabei so viel, dass es gar nicht so einfach ist, es in unser Leben zu übersetzen. Gnade meint Geschenk, Gabe, Wohlwollen, Liebe und Freundschaft. Damit unsere Herzen weich und gleichzeitig fest und mutig werden, braucht es die Begegnung und die Pflege mit der Gnade – der Freundschaft mit Gott. Gnade meint Geschenk, Gabe, Wohlwollen, Liebe und Freundschaft.
Wir sind angewiesen auf die Verbindung mit der Gnade, der Freundschaft Gottes. Wir lernen uns dem freundschaftlichen, wohlwollenden Blick Gottes auszusetzen und uns lieben zu lassen. Ich lerne mehr und mehr, den Satz zu glauben: „Du bist der geliebte Mensch!“ Dieses Wissen macht mein Herz gleichzeitig weich und mutig.
Gnade meint Geschenk, Gabe, Wohlwollen, Liebe und Freundschaft.
Ein weiches Herz ist verletzlich
Für ein weiches Herz ist es entscheidend, unsere inneren Schutzpanzer vorsichtig abzulegen. Wir müssen trainieren, offen zu bleiben, statt zum Angriff überzugehen oder uns zu verteidigen. Da der innere Schutzpanzer durch Angst entsteht müssen wir
- uns unserer Angst bewusst werden
- uns entscheiden, trotz der Angst offen zu bleiben
- üben, darauf zu vertrauen, dass es gut ausgehen wird.
Was wäre, wenn wir bei der nächsten emotionalen Attacke eines Menschen (oft sind es die ganz nahen Menschen!) nicht mit Angriff oder – vielleicht noch schlimmer – mit Rückzug und einem noch stärkeren Panzer reagieren würden? Was wäre, wenn wir beim nächsten Konflikt zeigen, was uns verletzt hat, unsere Sicht formulieren und offen, zugewandt und weich bleiben. Was wäre, wenn wir uns fragen würden, was unser Gegenüber wirklich meint, welche Äußerung es war, die uns so getroffen hat? Warum gesagt wurde, was gesagt wurde? Wenn wir darüber nachdenken würden, wie wir miteinander im Gespräch bleiben können?
Es bleibt eine Entdeckung, ein Geschenk und auch ein Lernweg, uns verletzlich zu zeigen, sichtbar zu werden, offen zu bleiben, auch wenn wir nicht kontrollieren können, wohin das führt. Gerade hier zeigt sich, was Mut ist. Wir legen damit unseren inneren Schutzpanzer ab und treten hinaus aus jeder emotionalen Sicherheit.
Ich glaube an genau diesem Punkt wird deutlich, was Nachfolge am Ende wirklich bedeutet. Jesus nachzufolgen heißt, verletzlich und offen zu sein, ein weiches Herz zu bewahren und gleichzeitig einen geraden Rücken und aufrechten Gang zu haben. Das kostet Mut. Und doch lohnt es sich. Wir alle werden ein Leben lang unsere Rückenmuskeln trainieren müssen, und gleichzeitig wird uns Jesus immer wieder aufs Neue mit einem weichen Herzen beschenken.
Ein weiches Herz lebt Barmherzigkeit
Nichts macht uns feiger und gewissenloser als der Versuch, von allen Menschen geliebt zu werden.
Die Körperhaltung draußen in der Wildnis
Ich denke wieder an die krabbelnde Psychologin auf dem Hochflorteppich. Es stimmt, ein aufrechter Gang ist entscheidend. Wir dürfen uns von der Meinung anderer Menschen nicht abhängig machen. Marie von Ebner-Eschenbach sagte einmal: „Nichts macht uns feiger und gewissenloser als der Versuch, von allen Menschen geliebt zu werden.“ (3) Wenn wir aufrecht gehen, heißt das, dass wir in echter Freiheit leben und die Identität ergreifen, die Gott uns schenkt: Geliebte, Söhne, Töchter, Beschenkte!
Dabei ist der größte Gegner immer die eigene Angst. Ihr gilt es zu begegnen und ihr mutig gegenüberzutreten.
Als Gegenspieler einer gestärkten Muskelpartie im Rücken brauchen wir ein wild-weiches Herz. Dieses Herz ist offen für Gottes Arbeit in uns. Es öffnet sich anderen gegenüber und zeigt sich. Ein wild-weiches Herz ist eines, das lernt, was Gnade ist. Es bleibt wild und mutig. Es lebt in tiefer Verbundenheit mit Jesus. Es lebt Vertrauen.
Wir brauchen beides: einen starken Rücken und ein wild-weiches Herz. Beides darf sich weiter ausbilden.
(1) Hier in leicht abgeänderter Form wiedergegeben nach: Brené Brown, Entdecke deine innere Stärke. Wahre Heimat in dir selbst und Verbundenheit mit anderen finden, Kailash, München 2018, S. 166–167.
(2) Wenn du mehr zum Thema „Herzpflege“ wissen möchtest, empfehle ich dir mein Buch „Herzheimat“.
(3) Zitiert nach: Hildegard Hamdorf-Ruddies, Zitate für die Predigt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, S. 49.
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