Jele Mailänder
Hagar – Du bist ein Gott, der mich sieht
Vom Aufbruch in die Wildnis, um den eigenen Weg zu finden
Foto von Sophia Jung | instagram.com/sophiajuu
Ihr Name bedeutet „die Fremde“. (I) Und das ist sie in jeder Hinsicht. Sie, die ägyptische Sklavin, gehört nicht zur Familie, sondern dient Sara, der Ehefrau Abrahams. Die beiden warten verzweifelt auf einen Nachkommen, einen Erben. Und mehr noch: Sie warten auf die Erfüllung der Verheißung. Gott hatte versprochen, dass ihre Nachkommen so viele werden, dass man sie nicht zählen könne (1. Mose 16,10). Allerdings wird die Frage lauter, wie sich diese Verheißung denn erfüllen soll. Sara scheint unfruchtbar zu sein und ist inzwischen auch zu alt, um Kinder bekommen zu können. So soll also Hagar, die fremde Sklavin, mit Abraham schlafen, und diese wird tatsächlich schwanger. Das Kind wird als Erbe Abrahams gelten, so ist es die gängige Praxis im Orient, und Hagar wird Nebenfrau Abrahams, bleibt aber Sklavin Saras. Da ist Streit vorprogrammiert, denn wo der Neid regiert, wird mit scharfen Waffen gekämpft. Sara ist plötzlich jedes Mittel recht, um Hagar zu demütigen. Die schwangere Sklavin flieht vor ihrer Herrin in die Wüste. Dort, in der Wildnis der Wüste, findet der Engel Gottes die fremde Hagar und stellt ihr die beiden großen Fragen des Lebens: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ (1. Mose 16,8b; LUT 2017).(II)
Wenn du aufgebrochen bist, hast du dich entschieden, nicht länger einfach nur fremd zu bleiben. Du setzt dich mit deiner Fremdheit auseinander und bist bereit, das Risiko einzugehen, in der Wildnis unterwegs zu sein. Du ahnst, dass du deiner Berufung folgst, wenn dein Schmerz, nicht dazuzugehören, dazu führt, dass du etwas verändern und bewegen willst.
Denn sie hört die Fragen des Engels:
„Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Sie ändert ihre Haltung und ihren Blick auf die Gesamtsituation.
Stopp!
Ich muss hier kurz Luft holen. Was für eine verrückte Geschichte! Kommt uns nicht genau das bekannt vor: fremd im „eigenen Laden“ – nicht wirklich dazugehörend, in eine Rolle gepresst, die eigentlich nicht passen kann? Und dann folgt der Aufbruch in die Wildnis, der damit verbunden ist, den eigenen Weg zu finden, die persönliche Berufung zu erkennen, der Fremdheit nachzugehen. Hagar hat genau das gemacht. Sie flieht und findet sich in der Wildnis wieder. Dort wird sie von Gott gefunden. Die Pointe an dieser Geschichte ist, dass Hagar nicht weiter hinaus in die Wüste zieht und „ihr eigenes Ding“ macht. Nein, sie geht zurück zu Abraham und Sara, unsicher, gleichzeitig vertrauensvoll und mit wachen Ohren. Denn sie hört die Fragen des Engels: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Sie ändert ihre Haltung und ihren Blick auf die Gesamtsituation.
Genau hier wird sich die Geschichte von so manchen, die ihrer Pionierberufung folgen, entscheiden: Sie brechen auf, suchen ihre Berufung und gehen ihrer Fremdheit nach. Sie verlassen alles – manchmal sogar jede Form von Glauben. Sie kappen ihre Beziehungen in der Kirche und den christlichen Gemeinschaften, weil ihre Rolle nicht gepasst hat, und sind dann allein unterwegs. Dabei überhören sie aber oftmals die Stimme Gottes und verpassen so die Begegnung mit dem Göttlichen. Schon oft habe ich gehört: „Ich habe mich dort nicht mehr wohlgefühlt. Ich musste einen eigenen Weg finden. Und nun weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.“ Die Geschichte von Hagar erinnert uns daran, dass wir hinaus in die Wildnis sollen, das bedeutet aber nicht, dass wir zwingend das gesamte äußere Umfeld hinter uns lassen müssen.
Ja, wir sollen, wir müssen aufbrechen, um uns auf die Suche nach unserem eigenen Weg zu machen. Wir sollen hinaus in die Wildnis. Aber mehr noch: Wir brauchen die Begegnung mit dem Göttlichen, die Gemeinschaft mit Gott. Es reicht nicht, das Geschenk zu haben, nicht hineinzupassen. Das ist nur unser Ausgangspunkt, aber es führt uns nicht weiter. Um irgendwo hinzukommen, um Neuland einzunehmen, brauchen wir die Gemeinschaft mit Gott, sind angewiesen auf die Begegnungen mit ihm!
Der Engel findet die fremde Hagar in der Wildnis: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Diese Fragen stellt Gott auch uns in unserer Wildnis, bietet uns damit das Gespräch an, und sucht die Gemeinschaft mit uns Fremden – so wie er sie mit der Sklavin gesucht hat: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Mit diesen Fragen, die uns in die Tiefe führen, wird die Wildnis zur Verheißung statt zur Bedrohung.
Die Wildnis wird zur Verheißung
statt zur Bedrohung.
Noch einmal: Stopp!
Hast du das für dich gelesen? Du bist nicht allein in der Wildnis! Einer ist da, der nach deinem Weg fragt und der das Gespräch mit dir sucht. Hast du wache Ohren dafür? Hörst du hin?
Gott verheißt – übrigens fast wortgleich zu Verheißung an Abraham – der Sklavin einen Sohn, der ein Stammvater für viele Völker werden soll. Er verheißt der Fremden eine Zukunft. Etwas Neues wird mit ihr beginnen. Ihr Sohn wird ein wilder Mann sein, der nicht in vorgegebene Strukturen passt. Die Wildnis ist mit dieser Verheißung keine Bedrohung, sondern Verheißung.
Wenn du mitten in der Wildnis herumirrst, allein, und über den Verlust dessen trauerst, was du hinter dir gelassen hast, wenn du auf der Suche nach deiner wahren Zugehörigkeit bist, dann gilt dir heute diese Verheißung Gottes: „Ich sehne mich nach Gemeinschaft mit dir! Ich frage nach deinem Weg! Ich sehe dich! Du hast eine großartige Zukunft vor dir! Mit dir wird etwas Neues beginnen! Ja: Mit dir wird etwas Neues beginnen!“
Hagar nennt den Ort in der Wildnis „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (1. Mose 16,14; LUT 2017). (III) Sie weiß, dass Gott sie ansieht, tiefer sieht. Nach dieser Begegnung geht sie zurück zu ihrer Herrin Sara, geht zurück zu der Frau, die sie demütigt und kleinmacht, geht zurück in einen herausfordernden Alltag. Die Verheißung ist verbunden mit einer Zumutung!
Hast du das für dich gelesen? Du bist nicht allein in der Wildnis! Einer ist da, der nach deinem Weg fragt und der das Gespräch mit dir sucht.
Auch darin liegt für uns ein Schlüssel für unsere Pionierberufung. Unsere Verheißung ist mit einer Zumutung verbunden!
Hagar geht letztlich zurück in ihre Fremdheit, doch sie ist verändert. Die Begegnung mit Gott, dem Göttlichen, hat ihre Geschichte unter ein neues Vorzeichen gestellt. Sie weiß um Gott, der sich nach Gemeinschaft mit ihr sehnt, hat den, der sie ansieht, in der Wildnis erlebt. Ihr Sohn wird Ismael heißen. Das bedeutet „Gott hört“. Mit ihm und seinem später geborenen Halbbruder wird Gott jeweils einen eigenen Weg gehen. Doch beide sind Verheißungsträger. Mit beiden schreibt Gott Zukunftsgeschichte. Damit jedoch all das geschehen kann, muss sie zurück in ihren herausfordernden Alltag. Die Verheißung Gottes ist verbunden mit der Zumutung an Hagar, zurück zu ihrer Herrin Sara zu gehen, und der Aufforderung: „[…] demütige dich unter ihre Hand“ (1. Mose 16,9b; LUT 2017).
Auch darin liegt für uns ein Schlüssel für unsere Pionierberufung. Unsere Verheißung ist mit einer Zumutung verbunden! Unsere Gabe ist auch eine „Auf-Gabe“! Wir sind berufen, eine Zukunft liegt vor uns – und wir sind herausgefordert. Ja, es wird uns einiges kosten, diese Berufung zu leben! Das kann bedeuten, etwas Neues zu gründen, etwas zu verändern oder unter neuen Vorzeichen zurück in bestehende Strukturen zu gehen.
Wir brauchen eine Wege-Spiritualität
Noch einmal zurück zu der Begegnung zwischen Hagar und dem Engel Gottes. Wir alle brauchen diese intensiven Begegnungen mit dem Göttlichen, wie Hagar sie hatte. Wir brauchen diese Gemeinschaft mit Gott, brauchen den „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (1. Mose 16,14; LUT 2017). Gerade in der Wildnis sind wir angewiesen auf die enge Beziehung zu dem, der unseren Weg kennt und uns eine Verheißung für die Zukunft schenkt!
Lass es mich noch einmal sagen: Es reicht nicht aus, dir deiner Fremdheit bewusst zu sein. Um deine Berufung zu finden, brauchst du die enge Gemeinschaft mit Gott.
Wenn du aufgebrochen bist, hast du dich entschieden, nicht länger einfach nur fremd zu bleiben. Du setzt dich mit deiner Fremdheit auseinander und bist bereit, das Risiko einzugehen, in der Wildnis unterwegs zu sein. Du ahnst, dass du deiner Berufung folgst, wenn dein Schmerz, nicht dazuzugehören, dazu führt, dass du etwas verändern und bewegen willst. Du hast dich dafür entschieden, dich weder damit zu arrangieren, dass du fremd bist, noch das Alte still und heimlich zu verlassen. Du gehst deiner Fremdheit nach und damit deiner Berufung. Willkommen in der Wildnis!
Damit gehörst du zu den Unsicher-Mutigen! Du wirst göttliche Begegnungen haben! Jede einzelne Person, die sich herauswagt, wird Gott begegnen, weil Gott ein Gott ist, der herausruft und lockt. Diese Begegnungen mit Gott selbst nenne ich Spiritualität. Ich nutze diesen Begriff, weil es um mehr geht als nur um einen denkenden Glauben und bloße Erfahrung. Es geht um beides. Und im Kern geht es um die Gemeinschaft mit Gott selbst, denn du bist niemals ganz auf dich allein gestellt, wenn du einen neuen Weg gehst. Der, der dich in die Wildnis gerufen hat, wird dir begegnen, wird dich finden.
Diese Gemeinschaft wirst du in einer zu dir passenden Form erleben, denn draußen in der unbekannten Wildnis passen die vorgegebenen Formen des geistlichen Lebens womöglich nicht mehr unbedingt zu dir. Vielleicht sind da mehr Fragen als Antworten und die Sehnsucht nach dem Größeren. Du wirst Zeit brauchen, um deine eigene Spiritualität zu entwickeln. Der Theologe Michael Moynagh, Gründervater der Fresh-Expressions-of-Church-Bewegung, spricht von einer „geerdeten Spiritualität“ (V), die Pionierinnen und Pioniere benötigen. Damit meint er die Verbindung zwischen Erfahrung, denkendem Glauben und Lebenspraxis. So viele Menschen fühlen sich fremd in der Kirche, brechen in die Wildnis auf und verlieren dabei ganz den Kontakt zu dem, der in die Wildnis lockt und ruft. Vielleicht weil sie auf Formen zurückgreifen, die nicht zu ihnen passen.
Wir brauchen eine Form des Glaubens für unterwegs, eine Spiritualität, die sich auf dem Weg bewährt.
Ich mache dir Mut: Beginne deinen Glauben so zu leben, dass er zu dir passt. Begegne Gott und lebe somit deine Spiritualität so, dass sie dir entspricht. Übernimm nicht einfach bestimmte Formen, sondern wage dich auch hier hinaus in die Wildnis. Gehe unbekannte und neue Wege. Aber geh sie!
Deine Art, zu glauben, wird sich verändern, wenn du in der Wildnis unterwegs bist. Und das ist gut so! Spiritualität, die sich nicht entwickelt, ist tote Spiritualität, und Glaube, der sich nicht verändert, ist stehen gebliebener Glaube. Dein Glaube darf sich entwickeln!
Draußen in der Wildnis braucht es eine Art, zu glauben, die zu deinem Aufbruch, zu Bewegung und Unterwegssein passt. Wir brauchen keine „fertige Spiritualität“, die sich abgeschlossen zeigt. Wir brauchen eine Form des Glaubens für unterwegs, eine Spiritualität, die sich auf dem Weg bewährt.
Es geht nicht darum, einfach nur die Batterie aufzuladen, um dann weiterzumachen. Es geht um Spiritualität, die alles durchdringt. Es ist ein Denkfehler, wenn wir meinen, dass wir umso mehr Kraft hätten, je mehr Zeit wir am Morgen im Gebet verbringen, und unser Dienst in der Folge noch effektiver wäre. Spiritualität ist nicht das „Benzin“, das unser Fahrzeug nach vorne bringt. Das wäre zu kurz gegriffen. Am Ende geht es um eine tiefe, lebensverändernde Gemeinschaft und Beziehung zu Gott selbst und deine Art, diese Beziehung zu leben.
(I) Die Assoziation mit hebräisch גֵּר ger „fremd/ortsfremd sein“ (Hagar = „die Fremde“) findet sich schon bei Philo v. Alexandrien, kann allerdings nicht direkt nachgewiesen werden.
(II) Nachzulesen ist diese berührende Wildnisgeschichte in 1. Mose 16 und 1. Mose 21,8-21.
(III) Brunnen Beer-Lahai-Roi.
(IV) Vgl. Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S.15–18.
(V) Michael Moynagh mit Philipp Harrold, Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis, hrsg. von Jochen Cornelius-Bundschuh / Michael Herbst / Ralph Kunz / Markus Weimer, BRUNNEN VERLAG, Gießen 2016, S. 256.
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Ist da genug Platz? Die Neidfrage.
Neulich bekam ich eine Anfrage, ein Referat zu halten. Da ich keine Zeit hatte, fragte er mich: „Kennst du denn eine andere Frau, die Du empfehlen kannst?“ Da habe ich ein Ziehen in der Herzgegend wahrgenommen: Neid.
Ds was du schreibst ist wirklich gut, so wAhr, so tief. DAnke. Gut brAuchbar!
Danke! Das freut mich!
Ich danke dir. Deine Worte. Sie berühren mich tief, die Jahreslosung berührt mich tief. In der Wildnis zu wissn: gott sieht mich. Das ist genau, was ich brauche, damit werde ich beschenkt. An meiner Situation hat sich nichts geändert. Aber eigentlich hat sich durch die Begegnung alles geändert.
Durch die Begegnung mit dem Lebendigen, der mich sieht ändert sich alles! Segen für Dich!
hab he meine le Tag meiner 10tägigen Exer. Hagar ist mir zum Schatz geworden und nun dein Text…Danke
DANKE! Dann wünsche ich dir weiterhin gute Entdeckungen mit dem Schat!